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"Stasistaat" - Suchwort für "DDR" 

 

Auf dem Heimweg vom Literaturkreis „schreibende Senioren“, mehr als fünfundzwanzig Jahre nach dem Anschluss der DDR an die BRD, bewegen mich noch die letzten Ausführungen eines Teilnehmers über seine beruflichen Ängste damals während der „Wende“.

Ich öffne die Wohnungstür, unser zwanzigjähriger Enkel Michel ist zu Besuch.

Nach der Begrüßung setzen wir uns an den Tisch. Uschi hat noch mit der Vorbereitung des Essens zu tun. In Gedanken bin ich immer noch bei den Geschichten vom Vormittag.

Michel fragt: „Opa, was macht ihr in Eurem Literaturkreis?“ Ich setze meine Gedanken mit Worten fort: „Teilnehmer mit unterschiedlichen Berufen schreiben über ihre Erfahrungen in der DDR, lesen ihre Geschichten, und wir diskutieren darüber“. „Welche Berufe?“ „Lehrer, Frisör, Verkäufer, Buchhalter, Hochschullehrer, Ingenieur. Auch zwei hochrangige Angehörige der Kriminalpolizei bzw. der Volksarmee sind dabei...“ „Also Stasileute“ ergänzt Michel wie selbstverständlich den letzten Teil meines Satzes. „Wieso Stasileute“ frage ich verdutzt.“ “Na das war doch so im Stasistaat“. Ich sortiere meine spontanen Überlegungen, will erklären, differenzieren, da kommt Uschi „wer holt die Kartoffeln aus der Küche“?

Damit ist das Thema vorerst „vom Tisch“. Doch meine Irritation bei Michels spontaner Fokussierung in seiner beiläufigen Frage wird nur kurz verdeckt, kehrt nach dem Essen, als wir wieder allein sind, verstärkt zurück, wirft weitere Fragen auf:

 

Sind „Stasi“ oder „Stasi Staat“ tatsächlich „Suchworte“, unter denen heute, mehr als fünfundzwanzig Jahre nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik, im Internet die DDR beschrieben wird?

Wie kommen junge Menschen, unsere Enkel, geboren nach der Wiedervereinigung, inzwischen erwachsen, sie haben die DDR nie erlebt, für sie sind die DDR, jetzt „ehemalig“ und ihr Klassenfeind, die BRD, damals hinter dem „eisernen Vorhang“, Geschichte, wie der dreißigjährige Krieg, die man in der Schule und aus Büchern lernt; wie kommen sie zu einer derartigen Fokussierung des Bildes von der DDR auf die Begriffe Stasi und Stasistaat?

Des Staates, der in den vierzig Jahren seiner Existenz nach dem Ende des verheerenden zweiten Weltkrieges Heimat für mehr als siebzehn Millionen Menschen wurde, auch die ihrer Eltern und Großeltern, die ihre besten Jahre, ihr Leben hier gestalteten, ohne Krieg. Wie kann es sein, dass davon primär Stasi und Stasistaat im gesellschaftlichen Gedächtnis bleibt?

 

Ich suche nach Erklärungen, blicke zurück auf meine Erfahrungen. Und je mehr ich mich an Einzelheiten erinnere, desto deutlicher erkenne ich:

 

Diese Generation unserer Enkel musste zwangsläufig ein derart eingeengtes farbloses Bild von unserer Zeit bekommen. Ich bin überrascht, erschrocken. Und muss dann selbstkritisch feststellen: Unsere Generation, wir selbst sind dafür verantwortlich:

Das Bild der DDR war vorgezeichnet durch den Jahrzehnte währenden radikalen „kalten Krieg“ zwischen den beiden Gesellschaftssystemen, in denen jede Seite den Gegner, anfangs noch harmlos auf der einen Seite als „den Klassenfeind“ und auf der anderen als „die Bolschewisten“ bezeichnet, zielgerichtet diffamierte und jede Aktivität des anderen mit allen verfügbaren Mitteln als böse, als schlecht brandmarkte, nicht nur in der Öffentlichkeit, in den Medien, sondern besonders auch in Erziehung und Bildung.

Viele „DDR-Flüchtlinge“ bestätigten dieses Bild von der DDR in der BRD. Einmal, weil Ausreisewillige, wenn ihre Absicht den Behörden der DDR bekannt war, gezielt ausgegrenzt, diffamiert wurden und sie in bestimmten Bereichen Arbeitsverbot erhielten. Versuchter Grenzübertritt („Republikflucht“) wurde als Gesetzesverstoß mit Haftstrafen geahndet.

Zum anderen wurde den Republikflüchtlingen in der BRD der Start, die Eingliederung in die Gesellschaft finanziell und materiell beispielsweise auf Basis eines sogenannten „C-Scheines“ erheblich erleichtert. Dazu befragten in den Auffanglagern Mitarbeiter der Sicherheitsdienste der ehemaligen Siegermächte und der BRD die Ankommenden intensiv und holten zusätzliche Informationen ein.

Um nun den C-Schein mit der höchsten Dringlichkeit und Entschädigung bzw. Förderung zu bekommen, musste entsprechend schweres in der DDR erlittenes Unrecht wie Verfolgung, Drangsalierung, Entmündigung, Arbeitsverbot oder Eigentumsverlust nachgewiesen oder glaubhaft gemacht werden.

So entstanden während der vierzig Jahre in beiden deutschen Staaten tendenziös gezeichnete Bilder des jeweils anderen.

 

Unmittelbar nach der ersten Welle der Euphorie, des Glücks im Herbst neunundachtzig begann dann die Zerschlagung der alten Strukturen, insbesondere die der Sicherheitsorgane und damit der Staatssicherheit „Stasi“.

Regimekritiker innerhalb und außerhalb der DDR meldeten sich enthusiastisch zu Wort, forderten ihr Recht auf Wiedergutmachung ein.

Man hatte fast den Eindruck, als hätten weit mehr als siebzehn Millionen Regimegegner in der DDR gelebt, so laut war ihre Stimme. Die „anderen“ kamen nicht zu Wort oder trauten sich nicht.

Viele Gründe gibt es für dieses Verhalten, objektive und subjektive: Die Angst vor Entdeckung und Diffamierung nach dem Motto „haltet den Dieb“; Bequemlichkeit, denn mit dem Strom schwimmt es sich leichter; eigene Erfahrungen, potenziert bei Flucht-Verdacht,-Vorbereitung, oder-Realisierung aus unterschiedlichsten Motiven; das schlechte Gewissen wegen begangener Fehler bzw. Unterlassungen bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit vor fünfundvierzig Jahren, eventuell mit der positiven Absicht, jetzt alles besser machen zu wollen.

 

Ich erinnere mich an interessante, aufregende persönliche Erlebnisse eines Betriebsratskollegen aus dem VEB Entstaubungstechnik Magdeburg, neunzehnhundertneunundachtzig verantwortlich engagiert im Zusammenhang mit der „Öffnung der Einrichtungen der Staatssicherheit“. Er erzählte uns, dass sie bei ihren ersten Besuchen in der Stasizentrale auf völlig überraschte und irritierte Mitarbeiter und Verantwortliche trafen, die nicht glauben wollten, dass ihre aktive Zeit vorbei ist.

Es kommen mir die Kampagnen gegen offizielle und vor allem auch inoffizielle Mitarbeiter (IM) der Stasi und Maßnahmen zu deren Enttarnung und Ausgliederung aus bzw. Fernhalten von öffentlichen und politischen Funktionen in den Sinn. Und

ich erinnere mich deutlich an meine eigenen Überprüfungen hinsichtlich Stasimitarbeit für meine Aktivitäten während und nach der „Wendezeit“, beispielsweise als Arbeitnehmervertreter in unterschiedlichen Gremien des SKET, dann im Landtag, in der Staatskanzlei, für mein kirchliches Engagement.

Offizielle und inoffizielle Mitarbeiter der Stasi sollten nicht in politischen und gesellschaftlichen sowie kirchlichen Funktionen tätig sein, die Bundesbehörde zur Aufarbeitung der Stasiunterlagen und die Stasibeauftragten der Landesregierungen wurden zu „Schicksal entscheidenden“ Institutionen, Stasiunterlagen waren ausschlaggebende Dokumente für Personalentscheidungen.

Dabei wurde erstaunlicherweise nahezu kritiklos unterstellt, dass die Dokumentationen und Berichte der Stasi in deren Akten der Wahrheit entsprachen und somit als „Beweis“ verwendet werden konnten. Irrtum, falsche Unterstellungen oder Missbrauch wurden ausgeschlossen. Ein oft folgenschwerer Fehler, wie ich an meiner Stasi-Akte feststellen konnte. Darin wurde beispielweise eine Reise nach Salzburg mir unterstellt, daraufhin eine Akte angelegt und die Überwachung von Karl-Marx-Stadt nach Magdeburg empfohlen, obgleich ich zu DDR-Zeiten nicht in Salzburg war, sondern meine Frau an der Fachtagung teilgenommen hatte.

 

Die Öffentlichkeit, die Medien konzentrierten sich nahezu ausschließlich auf spektakuläre Aktionen. In kurzer Zeit wurden die Begriffe „Unrechtsstaat“ und „Stasigefängnis“ Synonyme für die ehemalige DDR.

Und so wurde das in der BRD während der vierzig Jahre entstandene Feindbild der DDR während der Wendezeit darauf ausgerichtet.

 

Auch die meist sehr intolerant geführten öffentlichen Diskussionen über mögliches Verzeihen gegenüber Stasimitarbeitern ohne vorherige Sühne der Täter, und meine eigenen ersten Empfindungen und Gedanken bei meiner Einsicht in meine Stasiakten, fünf Jahre nach der Wende, fallen mir ein. Dort fand ich Kopien meiner Briefe an Verwandte und Freunde, Maßnahmepläne für meine Beobachtung einschließlich Observation von Arbeitsplatz und Wohnung im Rahmen einer „OPK-Pfanne“, einer operativen Personenkontrolle, und Berichte von inoffiziellen Mitarbeitern der Stasi, Arbeits- und Fachkollegen, wie ich später durch die Offenlegung der Klarnamen erfuhr. Und obwohl ich mir immer bewusst war, dass so etwas geschieht, fuhren meine Gefühle erst einmal „Achterbahn“, saß der Schock tief.

Bei genauerer Durchsicht der Akte erkannte ich mich jedoch in den Darstellungen sehr gut wieder und kann heute die Akte sogar für meine Biographie nutzen anstelle eines von mir leider nicht geführten Tagebuches.

Die Berichte „meiner“ IM enthalten keine bösartigen Unterstellungen, Diffamierungen oder Verleumdungen, geben den Sachverhalt einigermaßen korrekt wieder.

Meist waren die Informellen Mitarbeiter überzeugte Genossen der SED, also Mitglieder der staatstragenden Partei der DDR. Sie konnten sich daher sogar gewissermaßen verpflichtet fühlen, an das Sicherheitsorgan der DDR zu berichten, im Interesse ihrer Partei, denn die politische Ausrichtung der Politik der DDR wurde vom Zentralkomitee der Partei bestimmt und kontrolliert. Dazu gab es wiederum beim ZK die Zentrale Parteikontollkommission (kurz ZPKK) mit den Untergruppen auf Bezirks- und Kreisebene.

Das Ministerium für Staatssicherheit war ein ausführendes Organ dieser Politik, für die Sicherheit des Staates und seiner Bürger verantwortlich im Sinne und im Auftrag der „Politik von Partei und Regierung“, wie es im Volksmund hieß. Das MfS sollte entsprechend der Richtlinie 1/58 des MfS „alle Versuche, den Sieg des Sozialismus aufzuhalten oder zu verhindern – mit welchen Mitteln und Methoden es auch sei -, vorbeugend und im Keime ersticken.“

Deshalb ist mir auch heute noch schwer verständlich, wieso die Stasi und ihre Mitarbeiter de facto von den Bürgerrechtlern, Politikern, der Gesellschaft und den Medien nahezu allein für die Missstände in der DDR verantwortlich gemacht wurden und nicht die SED mit ihren Führungsgremien und Kontrollorganen sowie die Blockparteien, die die Politik der SED mit getragen haben.

Vergleiche ich allerdings dieses Verhalten mit den Diskussionen in den letzten Jahren über die Rolle der Sicherheitsorgane der USA und Großbritanniens bei der Kriegsvorbereitung gegen den Irak und mit den endlosen Debatten über die Ausspähpraktiken der amerikanischen und deutschen Geheimdienste, und bewerte dabei die angeblich völlige Ahnungslosigkeit und totale Überraschung unserer verantwortlichen Politiker, dann drängt sich mir die Vermutung auf, dass auch in der Wendezeit als Ablenkungsmanöver ein geeigneter „Buh-Mann“ gesucht und nur allzu schnell und leicht mit dem Geheimdienst, der Stasi, gefunden wurde.

 

Unter Berücksichtigung derartiger Erwägungen reagierte ich vorwurfsfrei, als ich einige Jahre später einen meiner IM auf einer Fachtagung in Berlin wiedertraf. Wir begrüßten uns und sprachen miteinander wie mit allen anderen ehemaligen Kollegen, die ich dort seit der Wende zum ersten Mal wieder sah. An die Berichte in meiner Stasiakte dachte ich erst, als wir uns bereits aus den Augen verloren hatten, ohne Zorn, ohne Bedauern.

 

Auch die öffentliche Aufregung, als der „Beauftragte der Landesregierung für die Stasiunterlagen“, besonders kompromisslos und intolerant gegenüber der Stasivergangenheit anderer und dafür mit Lob und Anerkennung honoriert, plötzlich zweitausendzehn mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert wurde, passt in das Bild. Er hatte anscheinend „vergessen“ oder durch die Anspannung auf Grund der vielfältigen völlig neuen Aufgaben und Aktivitäten einfach verdrängt, dass er einen Klassenkameraden, dem „staatsfeindliche Äußerungen“ vorgeworfen wurden, bei der Stasi mit eigenen Aussagen zusätzlich belastet hatte.

Möglicherweise hatten bei ihm die damaligen Geschehnisse keine gravierenden Eindrücke hinterlassen und die Bedeutung wurde ihm erst jetzt in seiner ganzen Tragweite, damals für seinen Klassenkameraden, heute für ihn in seinem neuen Amt, bewusst. Als er von Klassenkameraden daran erinnert und aufgefordert wurde, Stellung zu beziehen, tat er das erst unter unmissverständlichem öffentlichem Druck.

 

In dieser Phase der beginnenden Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit wurde das Bewusstsein der heute Zwanzig bis Dreißigjährigen geprägt.

 

Wohin das führen kann, zeigte beispielsweise eine Diskussion in den Medien über einen Antrag der Jungen Union auf einem Parteitag der CDU im November zweitausendelf in Leipzig. Darin wurde vorgeschlagen, die Nostalgieprodukte, Ehrenzeichen und Symbole der DDR zu verbieten.

Also Menschen, die die DDR selbst nicht bewusst erleben konnten, wollten die vierzigjährige Geschichte, die Erfahrungen, die Identität von Generationen auslöschen. Glücklicherweise siegte hier die Vernunft über die Bilderstürmerei, was in unserer älteren und jüngeren Geschichte leider nicht immer der Fall war.

 

Und wie die Äußerung unseres Enkels über Stasi und Stasistaat beweist, ist der Rück-Blick auf unsere Geschichte gegenwärtig immer noch einseitig auf den Buh-Mann „Stasi“ und „Stasistaat“ ausgerichtet.

 

Es bleibt Forschern und Politikern vorbehalten, die Spreu vom Weizen, den Müll von der Wahrheit, vom guten Kern zu trennen.

 

Erst wenn unvoreingenommen und objektiv, ohne persönliche oder Partei-Egoismen, die positiven und negativen Leistungen in der Vergangenheit in Ost und West gleichermaßen betrachtet und beurteilt werden, können wir aus unserer Lebens-Geschichte lernen, sind wir in der Lage neue, bessere gesellschaftliche und politische Strukturen für Frieden, Gerechtigkeit, Solidarität und die Bewahrung der Umwelt, der Schöpfung, zu schaffen.

Als ehemaliger Student der Bergakademie Freiberg dazu ein herzliches „Glück auf“.

 

Die Notwendigkeit dafür wird von Tag zu Tag deutlicher sichtbar. Aber der Leidensdruck scheint noch nicht groß genug, um konsequent daran zu arbeiten. Persönliche Interessen unserer Politiker und parteiliche Egoismen bestimmen leider zu sehr das politische Geschehen.

 

Dr.PvP privat
dr.pvp@drpvp.de