Startseite
Vorbemerkung
Unsere Zeit
Mein Leben
Publikationen
Stasiakte
Akteneinsicht
"Stasistaat"="DDR" ?
Vergebung ohne Sühne
Weltanschauung
Politik
Heimat
Gästebuch
Kontakt
Impressum
Kontakt-Formular

 

Einsicht in meine Stasi-Unterlagen

 

Dass es Brief- und Paketkontrollzentren gab, Telefongespräche abgehört wurden und die Staatssicherheit West - Kontakte überwachte, war mir immer bewusst.

Ich hatte es vor Augen, wenn ich Briefe meiner Tante aus Duisburg oder von meinem Onkel, der in Essen Oberstadtdirektor war, las, und vor allem, wenn ich ihnen antwortete, an sie schrieb. Bis ins Detail malte ich mir aus, wie die Briefsäcke geöffnet, auf Transportbänder entleert wurden, wie Frauen an beiden Seiten die Briefe und Karten entnehmen, die Couverts über Wasserdampf öffnen, die Briefbögen fein säuberlich entfalten, glätten, auf den Kopierer legen, sie anschließend wieder falten, die Couverts verschließen, sie auf ein zweites Band werfen, damit sie dann wieder in die Säcke gesteckt und abtransportiert werden. In meinen Wachträumen lasen dann später Männer die Kopien und fertigten Berichte oder Kommentare an.

 

Ich hatte nichts zu verbergen, wollte nichts verbergen. Ja manchmal formulierte ich sogar bewusst für die Kontrolleure mit dem Hintergedanken, dass sie es ja sind, die Einfluss nehmen könnten auf Entscheidungen an höchster Stelle. Sie sollten wissen, wie es um die Wirtschaft, die Forschung, die Stimmung der Menschen im Lande stand. Sie sollten erfahren, dass Änderungen notwendig seien, wenn man technisch technologisch und gesellschaftlich, national und im Wettbewerb mit dem „nicht sozialistischen Wirtschaftsgebiet“, vorankommen will, für eine bessere, friedliche Welt im Großen wie im Kleinen, für die Menschen. Das war, wenn man die Parolen im Neuen Deutschland wörtlich nahm, der Wille, das Ziel ihrer Auftraggeber. Und das wollte ich auch, also sollten sie es lesen und weitergeben. Manchmal formulierte ich sogar in Gedanken Antworten auf mögliche Fragen der Stasi zu meinen Ausführungen in den Briefen – aber danach gefragt wurde ich nicht.

 

Ende Juni neunzehnhundertneunundachtzig wurde mein Bruder in Westberlin fünfundfünfzig Jahre alt. Änderungen der Reisebestimmungen erlaubten nun auch arbeitsfähigen Bürgern der DDR den Besuch von Verwandten ersten Grades im Westen zu besonderen Anlässen, dazu gehörten „runde und halbrunde“ Geburtstage über fünfzig. Ich stellte den Antrag auf eine Besuchsreise.

 

Wenige Tage vor dem Termin klingelte im Büro das Telefon und ein Mann erklärte mir freundlich: „Sie haben doch einen Antrag auf Besuchsreise zu ihrem Bruder nach Westberlin gestellt. Der Antrag wurde genehmigt. Als Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit würden wir gern mit ihnen vor der Reise sprechen. Können sie dazu morgen zu uns ins Verwaltungsgebäude auf der Insel, Zimmer ... kommen?“ Ich war überrascht, sagte ohne besondere Angst, eher mit einiger Neugier, zu.

 

Ein wenig weich in den Knien betrat ich am 20.06.1989 einen bescheiden eingerichteten Raum, zwei Herren begrüßten mich freundlich, den angebotenen Kaffee lehnte ich ab, wir setzten uns an einen kleinen Tisch in der Ecke des Zimmers.

Einer der beiden Herren bestätigte mir noch einmal, dass mein Antrag auf Besuchsreise nach Westberlin zu meinem Bruder genehmigt wurde. Darauf folgten einige Ausführungen zur Bedeutung des Betriebes und zu meiner Tätigkeit, die ich jeweils ergänzte oder bestätigte.

Dann unvermittelt: „Sie hatten in der Vergangenheit schon einige Anträge auf Besuchsreisen in die BRD gestellt, die nicht genehmigt wurden. Wie haben sie das damals aufgenommen?“ „Ich war enttäuscht und habe das auch entsprechend zum Ausdruck gebracht, auch in einer Eingabe an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR. Bei allem Verständnis für Sicherheitsmaßnahmen habe ich das auch als persönliches Misstrauen empfunden. Möglich, dass die Partei- und Betriebsleitung Vorbehalte oder Angst hatte, die Verantwortung zu übernehmen, aus welchen Gründen auch immer.“

Meine Gesprächspartner nickten, äußerten Verständnis für meine Reaktion und interessierten sich dann für das Umfeld meines Bruders. Soweit ich das aus den Erzählungen meines Bruders anlässlich seiner Besuche bei uns und unserer Mutter kannte, beantwortete ich ihre Fragen.

 

Ohne Übergang dann die Frage: „Sie unterhalten Kontakte zu ehemaligen Mitstudenten an der BA Freiberg, die die DDR ungesetzlich verlassen haben. Erwarten Sie, dass diese Personen Kontakt zu ihnen suchen werden?“ Ich hatte diese Kontakte nie bewusst verschwiegen, sie stets pflichtgemäß in den Fragebögen zur Kaderakte angegeben, konnte deshalb auch jetzt mit ruhigem Gewissen offen darüber reden. „Nein, mein Besuch ist rein privat und gilt ausschließlich meinem Bruder zu dessen Geburtstag. Außer meinem Bruder, meiner Familie und meinen Kollegen weiß auch Niemand, dass ich zum Geburtstag meines Bruders fahre.“

 

Daraufhin folgten freundlich formulierte Warnungen vor möglicher Kontaktaufnahme westlicher Geheimdienste oder Fachkollegen, die ich dankend annahm mit dem Hinweis, dass ich auf Grund meiner Tätigkeit im Forschungsbereich zur Vertraulichkeit verpflichtet sei.

Die Herren wünschten mir eine gute Reise und baten mich, nach Rückkehr noch einmal zu Ihnen zu kommen, um über meine Erfahrungen zu sprechen.

Das habe ich zugesagt und während der Reise natürlich auch nicht vergessen.

Das Gespräch verlief ruhig, sachlich, konzentriert und aufgeschlossen, ich hatte ein gutes Gefühl.

Selbstverständlich erzählte ich meiner Frau und auch meinem Chef von dem Gespräch.

 

Auf der Fahrt nach Berlin und besonders beim Übergang zur S- Bahn durch die Passkontrolle Friedrichstraße waren Spannung und Neugier groß. Ich wurde das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. War es nur Einbildung?

Irgendwie spürte ich auch eine gewisse Sicherheit gerade durch das Gespräch bei der Stasi. Ich kontrollierte mich selbst stärker und beobachtete meine Umgebung aufmerksamer als sonst, deutete einzelne Begebenheiten aus einem Gefühl des „beobachtet Werdens“ heraus.

Beim Umsteigen in Westberlin wollte ein angetrunkener Eisenbahner mich aufdringlich und laut in ein tiefsinniges Gespräch über die Missstände bei der Bahn und die unfähigen Politiker verwickeln. An sich ganz harmlos. Misstrauisch und distanziert behandelte ich ihn, was sonst gar nicht meine Art war. Wahrscheinlich suchte er nur menschliche Nähe, Trost - und ich enttäuschte ihn.

 

Die Tage mit meinem Bruder waren beeindruckend und vergingen viel zu schnell. Mein Bruder lebte zu der Zeit schon von der Familie getrennt und wohnte in seiner Gartenlaube im Grunewald. Die durchweg freundlichen, teils sehr herzlichen Nachbarn waren aufgeschlossenen und interessiert an unserem Leben in der DDR und an Magdeburg, das sie nur vom Vorbeifahren auf der Autobahn kannten.

 

Westberlin als Stadt machte einen überwältigenden Eindruck auf mich. Mein Bruder war in einer kleinen Filiale von Reichelt beschäftigt, dort wurde gerade eine Inventur durchgeführt. Ich half ihm dabei und war beeindruckt von der Vielfalt der Waren.

Die Mitarbeiterinnen verwöhnten mich zum Feierabend mit dem restlichen Kuchen, der am nächsten Tag nicht mehr verkauft werden durfte sondern vernichtet werden musste. Den Angestellten war es verboten, ihn mit nach Hause zu nehmen.

Am nächsten Tag fuhren wir ins „Kaufhaus des Westens“. Dort erschlug mich das mir bis dahin völlig unbekannte Überangebot, der Glanz, das Leben in den riesigen Verkaufshallen, die pompöse Aufmachung. Ich geriet von einer Überraschung in die nächste, fühlte mich bei aller Bewunderung klein und verloren, hilflos, unsicher.

 

Prickelnd war die Situation im Rathaus Steglitz, als ich mir meine 100 DM West Besuchsgeld abholte. Immer in dem Bewusstsein, beobachtet zu werden, mit dem Vorsatz, dass ich das nicht verschweigen werde bei meiner Rückkehr.

 

Bei meiner Abreise war ich dankbar für die beeindruckenden Tage. Wir verabschiedeten uns mit der Hoffnung, dass ich ihn fünf Jahre später, zum sechzigsten Geburtstag, wieder besuchen werde. Dass das bereits wenige Monate später ohne Grenzprobleme und Genehmigungen möglich werden könnte, kam uns damals nicht in den Sinn. Ich fühlte mich in dem Moment extrem privilegiert.

 

Ohne besondere Vorkommnisse zurückgekehrt nach Magdeburg, rief ich wie verabredet im Büro des MfS an und verabredete einen Termin. Das Gespräch verlief wie das vor der Reise. Ich berichtete sachlich und schilderte meine Eindrücke, es gab nichts, was ich hätte verschweigen wollen, besonders nicht das Besuchsgeld.

Der Bericht wurde wohlwollend zustimmend angehört. Dann noch einige Fragen zu meiner Arbeit, deren Inhalt, zu der Unterstützung durch Betrieb und Partei, zum Neuerer- und Patentwesen. Ich wies auf Probleme durch unzureichende materielle Voraussetzungen hin und darauf, dass wir wegen der fehlenden Rohstoffe „das Fahrrad oft neu erfinden“ müssen und damit wertvolle Zeit verlieren.

 

Gezielte Fragen nach meinem Eindruck von den Aktivitäten meines Chefs am Gießerei-Institut der Bergakademie Freiberg - die Kontaktaufnahme wegen seiner Habilitation hatte ich vermittelt - beantwortete ich wahrheitsgemäß „darüber kann ich nur spekulieren, fragen sie ihn und die Freiberger am besten direkt“.

Die Gesprächspartner schauten auf die Uhr, ich wurde gebeten, das Gespräch später fortzusetzen, was auch geschah.

Am Ende des folgenden Gespräches kamen wir auf mein unmittelbares Umfeld zu sprechen. Dabei erwähnte ich, dass ich sowohl mit meiner Frau als auch im Büro über unser Zusammentreffen gesprochen habe.

Dann kam der Herbst 1989, die Ereignisse überschlugen sich, die Grenze wurde geöffnet, wir wollten uns wiedervereinigen, traten dann aber der BRD „alt“ bei und wurden eines von fünf „neuen Bundesländern“ mit Geburtswehen, Entflechtung der Kombinate durch die Treuhand und freien Wahlen.

Alles „alte“, die DDR, musste weg, wurde durch das ebenso „alte“, die BRD, ersetzt, ohne Prüfung, Korrektur oder „Schwachstellenbeseitigung“.

Wir, die „Neuen“, durften alles neu lernen, brauchten „Persilscheine“, wenn wir uns in Politik, Verwaltung und Kirche aktiv einbringen wollten, mussten eidesstattliche Erklärungen abgeben, nicht für die Stasi, „den Stalinismus“ tätig gewesen zu sein, die Überprüfung auf eventuelle Stasimitarbeit beantragen.

Ich habe derartige Überprüfungen 1989/90 für mein gesellschaftspolitisches Engagement im SKET als Arbeitnehmervertreter, bei meiner politischen Aktivität zur Vorbereitung der Landtagswahl 1994, bei Übernahme des Amtes als Präses der Kreissynode der evangelischen Kirche und bei Aufnahme meiner Tätigkeit als Referent des Ministerpräsidenten beantragen müssen.

Die Brüder und Schwestern in und aus den alten Bundesländern, also die „Alten“ wollten das nicht, lehnten es für sich rigoros ab.

 

In den Turbulenzen der Wendezeit fiel diese Ungleichbehandlung nur Wenigen auf.

Später wurde das Stasiunterlagengesetz als Bundesgesetz erlassen. Derartige Gesetze gelten pro forma für alle Menschen in der jetzt neuen Bundesrepublik gleichermaßen, das ist im Grundgesetz, Artikel 3, so festgelegt.

Zehn Jahre nach der Wende stellt jedoch beispielsweise die „Landesbeauftragte für den Datenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht Brandenburg“, in ihrem 8. Tätigkeitsbericht 1999 fest: „...So ist fraglich, ob Daten aus diesen Sammlungen (Stasiunterlagen) bei Personalmaßnahmen im öffentlichen Dienst der neuen Bundesländer weiterhin uneingeschränkt als prägendes Element für das Kriterium der persönlichen Eignung und damit der Zuverlässigkeit herangezogen werden können, während in den alten Bundesländern eine Regelüberprüfung schon lange nicht mehr stattfindet. Angesichts der ständigen Fluktuation ganzer Bevölkerungsteile zwischen den alten und den neuen Bundesländern dürfte eine solch unterschiedliche Handhabung als Ungleichbehandlung nicht mehr zu rechtfertigen sein.“

 

Ungeachtet dessen verabschiedet der Bundestag etwa 20 Jahre nach der Wende eine Novelle des Stasiunterlagengesetzes. Darüber berichtet die Volksstimme am 1. Oktober 2011 mit dem Titel „21 Jahre Einheit - wieder mehr Überprüfungen“:

„Die Stasiüberprüfungen im öffentlichen Dienst sollen nach der Gesetzesnovelle bis zum 31. Dezember 2019 möglich sein“.

„Eine Überprüfung von Beschäftigten im öffentlichen Dienst (wird) auf größere Personenkreise ausgedehnt. (Zukünftig können alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes ab der Besoldungsgruppe A9 beziehungsweise Entgeltgruppe E9 überprüft werden)“.

Dazu wird Wolfgang Thierse zitiert: Das Gesetz ist „rechtspolitisch fragwürdig und verfassungsrechtlich bedenklich“. „…die geplante Ausweitung der Überprüfung im öffentlichen Dienst ohne konkreten Verdacht sei völlig unverhältnismäßig“.

Diese Feststellung aus dem Munde des Vize-Bundestagspräsidenten klingt bedrohlich, Gründe sind leider nicht schlüssig dargelegt.

 

Mich bewegt die Auswirkung der praktischen Handhabung dieses novellierten Gesetzes im Blick auf eine in der gleichen Ausgabe der Volksstimme zitierten Studie zur Problematik der Demokratie- / Politik- oder Politiker-Verdrossenheit der BürgerInnen in West und Ost.

In dieser Studie wird festgestellt: „Mit der Demokratie sind im Osten nur 18 Prozent der Befragten zufrieden, im Westen sind es 23 Prozent. Vertrauen in die Bundesregierung gaben in Ost und West rund 15 % an. … Nur 22 % der Befragten im Osten sähen sich als Bundesbürger“, erläutert Gunnar Winkler, „vielen fehle es vor allem an der Anerkennung ihrer Lebensbiographie.“ Letzteres war und ist sicher auch auf die Ungleichbewertung der Lebensarbeitszeit bei der Rentenberechnung in Form der unterschiedlichen Rentenwerte Ost und West für die Entgeltpunkte zurück zu führen. Schon damals war deutlich, dass dieses Problem sich in naher Zukunft biologisch endgültig erledigen wird, was nach meiner Meinung so auch beabsichtigt ist.

Über alle Generationen hinweg ist jedoch die unterschiedliche praktische Anwendung des Stasiunterlagengesetzes in Ost und West eine offensichtliche Diskriminierung:

Das Gesetz gilt formal für die Bundesrepublik. Angewendet wird es anscheinend ausschließlich in den neuen Bundesländern. Ist es also nur eine „Kann“-Bestimmung, die der Diskriminierung Tür und Tor öffnet? Oder verstößt man wissentlich gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, Grundgesetz Artikel 3?

 

Die Zugangsvoraussetzungen für die gleichen staatlichen Ämter und Funktionen sind jedenfalls de facto in Ost und West nicht gleich, sind vom „Gutdünken“, von lokalen politischen Entscheidungen einzelner Landesregierungen abhängig.

Dadurch werden durch die Auslegung oder Nichtbefolgung des Gesetzes die Gräben, oder die Mauer zwischen Ost und West, neu errichtet.

Oft hörte ich in diesem Zusammenhang die Begründung „die Stasi gehörte zur DDR, wir im Westen haben damit nichts zu tun“. Bei dieser Behauptung habe ich stets das Gefühl, dass sie ausschließlich der Verschleierung oder Ablenkung dient:

Jeder politisch Interessierte weiß, dass in allen strategisch und taktisch für die ehemalige DDR wichtigen Institutionen der damaligen BRD, von der Wirtschaft bis in höchste politische Ämter, offizielle und inoffizielle MitarbeiterInnen des MfS, der Stasi, in Größenordnungen tätig waren. Der „Klassenfeind“ wurde mindestens ebenso intensiv in der BRD wie in der DDR beobachtet und entsprechende Akten über Personen und Institutionen angelegt, deren Offenlegung nach Ablehnung durch die damalige Regierung Kohl nach meiner Information bis heute nicht in Erwägung gezogen wird – warum?!

Das führte dazu, dass noch heute Mitarbeiter der Stasi in den alten Bundesländern als „wohlanständige“ Bundesbürger gelten, und zwar dort angeworbene ebenso wie eingeschleuste oder als Flüchtlinge getarnte ehemalige DDR – Bürger.

Außerdem liegt die Vermutung nahe, dass unmittelbar während und kurz nach der Wende viele Stasibelastete, die fürchteten, entdeckt und an den Pranger gestellt zu werden, ihre Chance in den alten Bundesländern gesucht haben. Die Euphorie über die Wiedervereinigung hat das wesentlich begünstigt.

Wir hatten ähnliches damals erlebt, als sich am Ende des 2. Weltkrieges die SS- Angehörigen aus Angst vor den Russen erfolgreich in Richtung Westen absetzten.

 

Anlässlich des 50jährigen Jubiläums unseres Diplomabschlusses traf ich auch einige, die die DDR illegal oder über Ausreiseantrag verlassen hatten.

Einer von ihnen war Anfang der 80er Jahre „ausgereist“, seine Stasiakte soll bis 1990 ordnungsgemäß fortgeführt worden sein. Die informellen Mitarbeiter in der BRD sollen allerdings nicht „IMS“ sondern „IMF“ (mit „Feindberührung“) genannt worden sein.

 

Gleichbehandlung kann nach meiner Meinung nur erreicht, Diskriminierung ausgeschlossen werden, wenn in Ost und West generell gleiche Maßstäbe angelegt werden: Alle oder keiner wird überprüft. Für den, der nichts zu verbergen hat, ist das doch nur ein selbstverständlicher Akt der Solidarität, des guten Willens.

Ohne Verjährungsfrist wäre sonst auch denkbar, dass Menschen, die wegen ihrer Verbindung zur Stasi berufliche Nachteile haben, wegen Diskriminierung auf Schadenersatz klagen.

 

Am 19.01.1995, fünf Jahre nach Antragstellung, besuchte ich zum ersten Mal die Außenstelle Magdeburg des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR.

Schon beim Betreten der Räume, während der Einweisung in die „Verhaltensvorschriften“, die technischen und organisatorischen Möglichkeiten vor Ort, beschlich mich ein eigenartiges Gefühl aus Unsicherheit und Neugierde. „Was erfahre ich hier über wen aus meinem früheren Umfeld? Über mich, mein Leben?“

Meine Gedanken und Empfindungen beim Durchblättern und dann genaueren Lesen der damals noch unvollständigen Akte kann ich kaum in Worte fassen. Ich fand Kopien meiner persönlichen Briefe an Verwandte und Freunde, Gesprächsnotizen, Beurteilungen, Berichte, Zuarbeiten unterschiedlicher IM, Pläne für die Observierung meiner Wohnung und des Arbeitsplatzes, akribisch festgehalten, dokumentiert, kommentiert und bewertet, Schlussfolgerungen daraus zu weiteren Befragungen und Recherchen, Beobachtungskonzepte und -Strategien, Pläne, Auswertungen.

All das hatte ich stets geahnt, mir vorgestellt, aber das war damals nur abstrakt, virtuell. Was ich jetzt sah, las, war Realität. Dahinter standen Menschen aus Fleisch und Blut, die ich kannte.

Es dauerte einige Zeit, bis ich mich darauf einlassen konnte. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Jemand in meiner Wohnung meine Sachen durchsuchte, im Büro meinen Schreibtisch. Was mögen die Leute dabei gedacht haben? Was miteinander gesprochen? Und wer saß in Prag beim Internationalen Gießereikongress mit am Tisch?

Je weiter ich las, desto ruhiger wurde ich. Beim Lesen einzelner handschriftlicher Berichte tauchten vor mir Personen, Gesichte auf, zu denen der Stil, die Kenntnis von einzelnen Fakten passen könnte. Später erfuhr ich ihre Klarnamen, meine Vermutungen wurden weitgehend bestätigt.

Und schließlich stelle ich fest, die Akten sind ein Tagebuch aus der Sicht nicht direkt Beteiligter. Ich erinnere mich plötzlich wieder an Einzelheiten, die ich längst vergessen hatte. „Ach ja, so war das damals“.

Die Mitschriften über die Gespräche vor und nach meiner Besuchsreise zu meinem Bruder nach Westberlin 1989 bestätigten meinen Eindruck, es war nahezu wörtlich protokolliert.

 

Doch bei diesen Protokollen lag ein Formblatt, 4 Seiten, in dem nur einige Rubriken zu folgenden Überschriften ausgefüllt sind:     

-         Beschluss über das Anlegen eines IM-Vorlaufes vom 19.6.89,

-         Abschlussbericht zu IM-Vorlauf vom 4.12.89,

-         Beschluss über die Archivierung des IM-Vorlaufes und den Abbruchsgrund „Nichteignung“.

Ganz unscheinbar, leicht zu übersehen. Plötzlich war ich jedoch hellwach. „Was lese ich da?“ Ich fühlte mich plötzlich beklommen, sah mich vorsichtig um, blickte wieder auf die Unterlagen, ich hatte mich nicht geirrt.

 

Der Text war kurz und knapp:

Zu dem Genannten wurde die OPK „Pfanne“ durchgeführt. Die AHP konnten nicht bestätigt werden. Die OPK wurde 1989 mit dem Anlegen eines IM-Vorlaufes abgeschlossen. Die ersten Kontaktgespräche verliefen positiv. Das letzte Gespräch wurde im Sept. 89 geführt, hier teilte der Genannte mit, daß er es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann jemanden zu belügen. Er hatte bereits seiner Ehefrau sowie seinem Abt. Ltr. mitgeteilt, daß er sich zu Gesprächen mit dem MfS getroffen hatte.

Stark kirchlich gebunden. Progressive Einstellung zu Soz. in der DDR. Geordnete Familienverhältnisse.“

 

Der Schock saß tief.

Seit 1984 lief die OPK „Pfanne“ (operative Personenkontrolle), die AHP (Anhaltspunkte) konnten nicht bestätigt werden, wurden abgeschlossen mit einem IM-Vorlauf, der am 4.12.1989 mit dem Abbruchsgrund „Nichteignung“ archiviert wurde.

 

Mir läuft es heute noch eiskalt den Rücken runter, wenn ich mir die Brisanz, die möglichen Konsequenzen vor Augen führe.

 

Beim ersten Lesen der Unterlagen hatte ich nur rückwärts geschaut, versucht, mir das Ausmaß der Kontrolle plastisch auszumalen, aus der sicheren Distanz der Gegenwart, dem Wissen – „mit der Wende sind die alten Strukturen beseitigt, also Schlussstrich unter die Geschichte“, an die ich mich durch die Unterlagen wieder deutlich erinnerte:

Da schreibt mir am 25.08.1983 ein Studienfreund aus gemeinsamer Freiberger Zeit, zwischenzeitlich in der Schweiz bei einem großen Konzern in der Forschung tätig, einen persönlichen Brief und fragt mit Bezug auf Veröffentlichungen zum Schweißen von Gußeisen mit Kugelgraphit, einer damals international aktuellen Entwicklung: „Könnten wir nicht etwas zusammenschweißen?“

Dieser Satz entsprach der typischen Ausdrucksweise des Naturburschen Diethard, seiner sportlich - naturverbundenen, trockenen, liebevollen Art mit schalkhaftem Hintergrund, stets kritisch, doch nie bösartig.

In gleicher Weise hatte er mich schon einmal auf einen Presseartikel hingewiesen, der sich auf eine 1964 von unserem früheren gemeinsamen Professor J. Czikel, zwischenzeitlich nach Österreich ausgereist, organisierte „Große Sommerexkursion nach Mitteldeutschland“ bezog, die internationale Fachleute durch Gießereien in Freiberg, Dresden, Ortrand und Leipzig führte, indem er schrieb: „Mir ist etwas unter die Augen gekommen, was ich Dir nicht vorenthalten möchte, sende Dir diesen Auszug kommentarfrei“.

Für Studienfreunde, die aus der Fachpresse und von Fachtagungen voneinander wissen, ist es naheliegend, dass man sich austauscht und Kontakte zu relevanten Fachbereichen sucht. Hier vielleicht etwas unbedarft hinsichtlich der politischen Konsequenzen, was seinem Naturell entspricht. War er doch 1961 während des Mauerbaus mit Studienfreunden in der BRD, kehrte nach Errichtung der Mauer über die grüne Grenze seiner Heimat Harz zurück, um dann Wochen später gemeinsam mit den beiden anderen auf gleichem Weg noch einmal und dann endgültig der DDR den Rücken zu kehren.

 

Als ich die beiden Sätze in meiner Akte exklusiv zitiert sah, fiel mir schlagartig wieder ein, dass mich damals beim Lesen des Briefes schon ein ungutes Gefühl beschlich. Deshalb hatte ich möglichst korrekt auf die Kompetenz der TH Magdeburg und des ZIS Halle verwiesen mit dem Hinweis, er möchte beide offiziell anschreiben, da auch wir mit beiden Institutionen wegen deren Kompetenz auf diesem Gebiet zusammenarbeiteten.

 

Dass Diethard mit diesen Sätzen bei uns eine Maschinerie in Gang setzte, in der Stasi- Fachsprache „OPK-Pfanne“ (operative Personenkontrolle) genannt, konnte er nicht voraussehen. Und ich habe es bis zur Akteneinsicht in dem Ausmaß auch nicht erwartet. Jetzt hatte ich es vor Augen:

Es wurden teilweise Verbindungen gesucht und konstruiert zwischen Personen und Ereignissen, die nie etwas miteinander zu tun hatten, beispielsweise der Hinweis in meinen Akten auf die Korrespondenz mit meinem ehemaligen Deutsch- und Klassenlehrer an der Oberschule, Walther A., der zu der Zeit schon in Hildesheim bei seinen Kindern wohnte, im Jahr 1978: „…daß der P. in einem Brief an die BRD-Person W.A. einige Probleme aus seinem beruflichen und betrieblichen Bereich andeutet“.

 

Alle Verbindungen zu Fachkollegen seit Studienabschluss wurden bei den jeweiligen örtlichen Dienststellen abgefragt und in die aktuelle „Überwachung“ einbezogen. Strategie, Kontrolle und Auswertung wirken faszinierend perfekt.

Überwachung im eigenen Land, Observieren von Arbeitsplatz und Wohnung, Überwachung auf internationalen Veranstaltungen, beispielsweise dem internationalen Gießerei-Kongress in Prag 1986. Über Treffen und Gespräche mit Fachkollegen und Studienfreunden wird sachlich berichtet, analysiert und die Hilfe des Gastgeberlandes in Anspruch genommen. Verdachtsmomente werden nicht bestätigt.

Direkt genanntes Ziel ist die Aufdeckung konspirativer Aktivitäten und Kontakte zu Fachkollegen aus dem NSW: „Die Zielstellung der OPK besteht in der Herausarbeitung des Charakters umfangreicher persönlicher und postalischer NSW-Verbindungen des v.P. sowie in der Herausarbeitung eines möglichen Abfließens von Forschungsergebnissen, die der v.P. durch seine Tätigkeit besitzt“.

 

Als Nebeneffekt oder Kollateralschaden für mich wurde allerdings auch mein privates Leben belastet.

Das wird sehr deutlich an den Vorgängen zu Anträgen auf Besuchsreisen in die BRD zu meiner Tante nach Duisburg, bei der ich während meiner Oberschulzeit in Magdeburg Sohn im Hause war.

Als sie aus Altersgründen nicht mehr zu uns kommen konnte, stellte ich einen Antrag auf Besuchsreise zu ihrem 80. Geburtstag im März 1987. Der wurde bereits von der Betriebsleitung, meinem HA-Leiter, nicht genehmigt und dann selbstverständlich abgelehnt.

Meine Frau erinnert sich noch heute deutlich an die Situation im Polizeiamt am Hasselbach Platz, wo mir die Entscheidung mitgeteilt wurde: Sie hat dort zum ersten Mal erlebt, dass ich auch laut werden kann, was bei mir tatsächlich sehr lange dauert. Aber ich blieb sachlich und formulierte eine ausführlich begründete Eingabe an den Vorsitzenden des Staatsrates Erich Honecker, die dann jedoch letztendlich nach eingehender Prüfung in allen Instanzen einschließlich Stasi durch die BL (Bezirksleitung) der SED Magdeburg mit einer Aufrechterhaltung der Ablehnung beantwortet wurde.

 

1988 wiederholte ich die Antragstellung auf Besuchserlaubnis in besonderen Fällen zum einundachtzigsten Geburtstag meiner Tante im März 1988. Die wurde mit Begründung durch die HA VII des MfS vom 26. April 1988 abgelehnt.

 

Im August 1988 starb meine Tante, ohne dass ich sie noch einmal hätte besuchen dürfen.

Ich stellte den Antrag, meine damals dreiundachtzigjährige kranke Mutter zur Beerdigung ihrer Schwester nach Duisburg begleiten zu dürfen. Unserer Mutter ging es gesundheitlich so schlecht, dass sie die Fahrt mit dem Zug von Ribnitz nach Rostock und das Umsteigen dort nicht alleine bewerkstelligen konnte. Der Antrag wurde vom Betrieb genehmigt, dann aber abgelehnt. Ich intervenierte bei betrieblichen und staatlichen Instanzen, jedoch ohne Erfolg.

Was ich damals nicht wusste, die Ablehnung war durch das MfS erfolgt und damit für alle Instanzen tabu, jedenfalls hat es niemand versucht, der Entscheidung zu widersprechen.

Ich fuhr also von Magdeburg mit dem Trabi nach Ribnitz, brachte unsere Mutter nach Rostock, setzte sie dort in den Interzonenzug, bat die Mitreisenden, sich ein wenig um sie zu kümmern, benachrichtigte meinen Bruder in Westberlin. Der flog nach Duisburg und holte unsere Mutter vom Bahnhof ab. Das gleiche Spiel dann auch bei der Rückreise.

Menschlichkeit, Mitleid, Verständnis für die Sorgen und Nöte der Menschen in der DDR war den Organen des MfS fremd. Ob die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder einzelne Dienststellen einen gewissen Spielraum gehabt hätten, ist schwer festzustellen.

 

Das MfS war ein Ministerium der Regierung der DDR. Die Politik, das Ziel, die Richtung wurde durch die SED, die Partei der Arbeiterklasse mit Zentralkomitee, Politbüro und Bezirksleitungen, den Partei-Kontroll-Kommissionen bestimmt, nicht zu vergessen den Block der antifaschistisch demokratischen Parteien, die sogenannten Blockparteien mit ihrer Eigenständigkeit „unter Führung der Partei der Arbeiterklasse“.

Organe waren Volkskammer, Staatsrat, Ministerrat, die Ministerien, eines davon das MfS.

Trotz Diktatur des Proletariats gab es also bestimmte Strukturen und Verantwortlichkeiten, wie auch eine Verfassung und Gesetze mit ihren Verordnungen und Richtlinien.

Diese Ordnung und Zuständigkeiten sollte man bei der Beurteilung der Entscheidungen der einzelnen Organe, beispielsweise des MfS, beachten und auch bei der Verurteilung der Handlungsweise einzelner Bürger und Bürgerinnen berücksichtigen. Nur dann kann man die Frage: „Wer trägt die Verantwortung“ objektiv beantworten.

Diese Frage sollte mich noch bewegen, als ich erfuhr, wer „mein“ IMS aus dem Kollegenkreis war, als ich ihn wieder sah und vor allem, als ich mit einem befreundeten Kollegen darüber sprach. Doch davon an anderer Stelle.

 

Der Inhalt der Stasiakte zeigt, wie folgenschwer, ja gefährlich, unbedacht formulierte Äußerungen von Menschen aus dem Westen, noch dazu von „Republikflüchtlingen“, für uns hier im Osten sein konnten.

 

Aber da war noch etwas, das ein Gefühl der Ohnmacht, ein Gemisch von Schreck, Angst und Dankbarkeit gleichzeitig, in mir aufkommen lässt:

Der IM-Vorlauf wurde mit der Begründung „Nichteignung“ abgeschlossen.

 

Immer wieder stellte ich mir die Frage: „Was wäre während und nach der Wende gewesen, hätte die Stasi nicht bis zuletzt so akkurat gearbeitet, den IM-Vorlauf nicht mehr ordnungsgemäß abgeschlossen und archiviert?“

Ich wäre der gleiche Mensch, mit der gleichen Vergangenheit, den gleichen Wünschen und Zielen.

Mein Leben aber wäre spätestens von dem Augenblick an, als ich den Antrag auf Stasiüberprüfung und Akteneinsicht gestellt habe, gravierend anders verlaufen. Mein Engagement in Kirche, Gesellschaft, Politik und wahrscheinlich auch im Beruf wäre so nicht möglich gewesen.

 

Oft sind es kleine Anlässe,

die Brüche im Leben bewirken-

oder sie verhindern.

 

War es Fügung oder Zufall? Ich glaube an Fügungen Gottes und bin dankbar dafür.

 

Dr.PvP privat
dr.pvp@drpvp.de